Soziologe Ullrich zu Protesten am 1. Mai: „Nationaler Furor“

Die 1.-Mai-Demo in Berlin war geprägt von Pro-Palästina-Slogans. Peter Ullrich spricht über die Empörung der Bewegung, Antisemitismus und Repression.

4 Demonstranten beim 1. mai: Vermummt, einer mit Pali-Tuch um den Kopf

Pro-palästinensische Demonstranten beim Revolutionären 1. Mai in Berlin Foto: Sebastian Gollnow

taz: Herr Ullrich, die Revolutionäre 1. Mai-Demo in Berlin war quasi eine reine Palästina-Demo. Andere Themen fanden nur am Rande statt. Hat Sie das überrascht?

Peter Ullrich: Da deutete schon im Vorfeld vieles darauf hin. Das Thema wurde bewusst ins Zentrum der Demo gestellt. Und für linke Bewegungen ist es eh ein Zentralkonflikt, der immer wiederkommt. Erst recht bei so einer dramatischen Zuspitzung in Nahost.

Vereinzelt waren auf der Demo verbotene Slogans wie „From the river to the sea“ zu hören. Ein Eingreifen der Polizei mit anschließender Eskalation stand kurz bevor. Woher kommt dieser Hang, trotzdem diese Dinge zu rufen?

Zunächst einmal, weil man es schlicht so meint. Dann geht es sicherlich auch um Selbstbehauptung gegen die Massivität, mit der gegen die propalästinensische Bewegung vorgegangen wird. Denken Sie an das Verbot aller Proteste in den ersten Wochen nach dem 7. Oktober mit der mindestens impliziten rassistischen Unterstellung, es handele sich sämtlich um Pro-Hamas-Demos. Oder an die völlig unverhältnismäßige Schärfe, mit der gegen den Palästina-Kongress vorgegangen wurde. Auf diesen Druck reagiert man mit einem gewissen Trotz und dem Versuch, Stärke zu zeigen, indem man sich nicht dem Staatsräsondiskurs fügt. Andererseits kann man eine verstörende ex­treme Wut und eine Dauerempörung, die fast religiös anmutet, beobachten, was sich insbesondere bei den nicht persönlich Betroffenen nicht allein aus dem Konflikt selbst erklären lässt.

47, beschäftigt sich an der Technischen Universität Berlin mit sozialen Bewegungen und Konflikten. Er ist Fellow am Zentrum für Antisemitismusforschung und Mitherausgeber von „Was ist Antisemitismus? Begriffe und Definitionen von Judenfeindschaft“ (Göttingen: Wallstein, 2024).

Woher kommt das dann?

Man sieht einerseits den Einfluss aktueller antirassistischer Diskurse und bestimmter Formen der „Identitätspolitik“. Die radikalisiert die Sprechortlogik: Nur Betroffene haben das Recht, sich zu bestimmten Themen zu äußern. Auch eine holzschnittartige Anwendung postkolonialer Diskurse auf Israel spielt eine Rolle. Die kolonialen Anteile an der Entstehung Israels werden betont, die befreiungsnationalistischen hingegen ignoriert. Das Denken ist sehr antagonistisch, für Uneindeutigkeiten ist kein Platz. Das andere ist, dass man sich gesamtgesellschaftlich in der Defensive fühlt. All das fördert die Gefahr, in Partikularismus zu verfallen.

Eine Überidentifizierung mit der palästinensischen Sache?

Es wird sich eben oft nicht nur in universalistischer Hinsicht für die Befreiung von Menschen von Besatzung engagiert, sondern man wird quasi Partei in einem nationalistischen Konflikt zwischen Zionismus und der palästinensischen Nationalbewegung. Der Nationalismus des eigentlichen Konflikts hinterlässt seine Spuren im Nahostkonflikt der Solidaritätsbewegungen. Man verfestigt hier Antagonismen, anstatt eine dritte Position einzunehmen, die es für eine Friedenspolitik bräuchte. Dieser Maximalismus trägt dazu bei, dass die Bewegung extrem unem­pfänglich auch für solidarische Kritik ist und die Reflexion scheut.

Woran machen Sie das fest?

Ein Beispiel: Ich war als Gast beim Geburtstag der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost im vergangenen November im Oyoun in Neukölln, mit netten Menschen und guter Musik. Und doch habe mich dort ziemlich alleine gefühlt, trotz aller Gemeinsamkeiten, zum Beispiel im Hinblick auf die Besatzungskritik. Irritiert hat mich, dass nicht zu spüren war, dass kurz vorher der 7. Oktober war. Das Schweigen zu diesem abscheulichen Terror war wirklich ohrenbetäubend. Es gab aber auch keinen Antisemitismus oder Hamas-Verherrlichung. Diese Veranstaltung hätte genauso zehn Jahre vorher stattfinden können. Dieses Gefühl haben auch jüdische Linke artikuliert, die sich zwar als Teil der Palästina-Solidaritätsbewegung verstehen, aber keine Empathie für ihre Traumata und Verluste nach dem Hamas-Angriff erfahren haben.

Dem Oyoun wurden anschließend die Gelder gestrichen

Das kritisiere ich auch. Was ich als Ambivalenz empfunden habe, wurde in der öffentlichen Debatte vereindeutigt, als wäre das Oyoun ein antisemitisches Zentrum und nicht ein wichtiger Ort für queere und antirassistische Arbeit

Sie halten die Kritik an der Bewegung für unfair?

Die Palästina-Aktivist*innen werden mitunter als Nazi-Wiedergänger gedeutet. Da heißt es, die stehen vor jüdischen Läden wie die Nazis 1938. Diese Art An­ti­se­mi­tis­mus­kri­ti­ke­r*in­nen meint das durchaus ernst. Sie sind subjektiv der Ansicht, gegen die BDS-Bewegung zu kämpfen, sei antifaschistisch und dann sind quasi auch alle Mittel zulässig. Da findet eine Vereindeutigung statt, die sich spiegelbildlich in der Borniertheit von Teilen der Palästina-Bewegung zeigt.

Worin besteht diese?

Wenn ich etwa Vorträge über Antisemitismus halte – und ich rede nicht von legitimer Kritik an Israel, auch radikaler –, gelingt es oft Leuten einfach nicht, das kognitiv zu trennen. Die sagen dann: „Aber es ist doch so schlimm in Gaza.“ Ja, es ist sogar extrem schlimm – aber das war nicht Gegenstand des Vortrags. Das ganze Themenfeld ist hochgradig antagonistisch und undiskursiv strukturiert. Es gibt nur noch wenige, die versuchen, mit unterschiedlichen Leuten zu reden, unterschiedliche Stimmen zusammenzubringen. Widersprüche werden nicht ausgehalten.

Steht sich die Bewegung selbst im Weg, ihr Hauptanliegen, das Leid in Gaza, besser zu vermitteln?

Teilweise muss man das so sagen. In den USA gab es bei den Uni-Protesten Slogans wie: „Hamas, we love your rockets, too“. Das beschreibt beileibe nicht die ganze Bewegung, aber dass so was dort einen Resonanzraum hat, ist ein Problem. Ein anderes Beispiel: Aus der BDS-Bewegung wurde vor Kurzem die israelische Bewegung „Standing Together“ als neues Boykottziel ausgerufen. Dabei ist diese in Israel derzeit die entschlossenste Stimme gegen den Krieg. Jetzt aber wird sie zum Exponenten einer drohenden „Normalisierung“ des Kontakts mit dem „Feind“. Diese Logik ist nicht progressiv und schwächt das Friedenslager.

Sie kritisieren, dass die Strategie nicht mehr reflektiert wird.

Es ist zu fragen, ob BDS oder die maximalistischen Slogans überhaupt etwas für die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­ne leisten. Man könnte hinterfragen, ob alles, worauf man beharren kann, auch tatsächlich klug ist und wen man verprellt. Ich finde, man darf das Mittel des Boykotts als Mittel gegen Besatzung propagieren ohne sich gleich Antisemitismusvorwürfe anhören zu müssen. Aber dass das für Jüdinnen und Juden hierzulande auch historische Erinnerungen an den Judenboykott der Nazis weckt, könnte man mit einem Mindestmaß an Empathie nachvollziehen. Genauso ist es mit „From te river to the sea“. Das ist ein hochgradig offener Slogan. Der kann als Forderung nach einem demokratischen Gemeinwesen für alle seine Be­woh­ne­r:in­nen gelesen werden. Oder aber in Hamas-Diktion als jene nach einem rein palästinensisch-islamischen Staat. Ich würde mir mehr Klarheit wünschen.

Wie ist es mit dem Beharren auf einer Begrifflichkeit wie „Apartheid“?

Der Begriff hat vor allem den historischen Kontext Südafrika. Es ist mittlerweile aber auch ein Rechtsbegriff, der zwar aus dieser Erfahrung schöpft, aber eine eigene Bestimmung gefunden hat. Man müsste eigentlich eine Diskussion über die verschiedenen historischen, politischen, rechtlichen und moralischen Implikationen des Begriffs führen, statt nur Eindeutigkeiten zu postulieren. So ruft die eine Seite „eindeutig Apartheid“, die andere findet auch nur die Diskussion darüber unerträglich und vermutet eine antisemitische Täter-Opfer-Umkehr.

Sprechen diese Slogans der Bewegung für eine insgesamt eher unterkomplexe Behandlung des Nahostkonflikts?

Es gib NGOs, die regelmäßiges Monitoring machen oder komplexe Analysen schreiben, wissenschaftliche Be­ob­ach­te­r:in­nen der Debatte, die sich politisch engagieren. Aber in den Solidaritätsgruppen auf den Straßen gibt es oft ein martialisches Auftreten, samt der Gefahr, den Nationalismus der eigenen Seite im Konflikt zu übernehmen. Dabei war man da eigentlich schon weiter. In den 1970/80er Jahren hatten Linke große Hoffnungen in Befreiungsnationalismen als Akteure revolutionären Fortschritts gesetzt. Wir wissen, dass diese Hoffnung so nicht gerechtfertigt war. Geschichte wiederholt sich.

Wie ginge es besser?

Es müsste darum gehen, den Universalismus wieder hochzuhalten. In so einem komplexen Konflikt kann man sich nicht so einfach auf eine Seite stellen. Man kann trotzdem Position ergreifen, aber in konkreten Fragen: gegen den Krieg, gegen die Besatzung, gegen die Siedlergewalt, aber auch gegen die korrupte Palästinensische Autonomiebehörde und die ex­trem reaktionäre und terroristische Hamas. Aber in der Frage des Lebensrechts der Menschen in Israel und Palästina muss man auf der Seite der allgemeinen Menschenrechte stehen. Daran zu erinnern, ist wichtig, weil das in dem nationalen Furor einiger in der Bewegung unterzugehen droht.

Welche Rolle spielt Antisemitismus für diese Rigorosität?

Ich halte das für einen Faktor, der nur einen kleinen Teil klärt. Der zen­trale Motor für eine sehr holzschnittartige Kritik ist die radikale Identifikation mit einer Konfliktseite. Genuin antisemitische Muster spielen eine Rolle, gehören etwa zur Programmatik der Hamas, aber das reicht nicht, um die Wut zu erklären. Nochmal zur Parole „From te river to the sea“: Sie wird als antisemitisch ausgelegt, weil sie den Anspruch auf das gesamte Land erhebt. Schaut man nach Israel, findet man aber auch überall Landkarten, in denen nichtisraelische Territorien Israel zugeschlagen werden. Man sieht: Das sind universelle Muster in gewalttätigen Konflikten, wo auf beiden Seiten maximalistische Positionen vertreten und die Ansprüche des Konfliktgegners negiert werden.

Der Antisemitismusvorwurf kommt zu schnell?

Es wird mit teils sehr schlichten Definitionen operiert, wie dem 3D-Test für Antisemitismus, der die Kriterien Dämonisierung, Delegitimierung und doppelte Standards postuliert. Doch das sind alles Muster, die in eskalierten Konflikten zu beobachten sind. Das ist nichts spezifisch Antisemitisches. Richtig ist dagegen: In der Logik des Konflikts erhöht sich die Neigung zur Übernahme antisemitischer Deutungen als Munitionierung der eigenen Position. Damit ist der Nahostkonflikt natürlich nicht die Ursache für Antisemitismus, aber befeuert ihn.

Die Szene hat es oft nicht vollbracht, sich von eindeutig grenzüberschreitenden Stellungnahmen nach der Hamas-Attacke zu distanzieren. Warum?

Viele Leute formulieren solche Kritik wahrscheinlich nicht, weil sie glauben, dass das die eigene Seite schwächt. Es gibt außerdem eine Renaissance autoritär-linker Gruppen, die in ihrem simplen Antiimperialismus auch im Hamas-Terror revolutionäre Impulse schlummern sehen. Dabei bräuchte es die Kritik, um sich nicht einzumauern und sich vor Selbstverblödung zu schützen. Eine Schutzmechanismus ist die Einbindung in andere politische Diskurse und Themen. Wo nur Palästina-Solidaritätsarbeit gemacht wird, versteigt man sich eine eigene politische Welt, die ausschließlich von diesem Thema strukturiert wird.

Der Staat agiert derzeit sehr unnachgiebig gegen die propalästinensische Bewegung. Wie bewerten Sie das?

Es ist unglaublich, wie etwa der Palästina-Kongress plattgemacht wurde mit Einreise- und Betätigungsverboten unter hanebüchenen Voraussetzungen, die den Or­ga­ni­sa­to­r:in­nen nicht einmal die Chance gelassen haben, sich „korrekt“ zu verhalten. Da kommt ein staatspolizeiliches Ideal zu tragen, unter dessen Banner Staatsräson durchgedrückt wird, ähnlich wie bei den Police Riots zum G20-Gipfel in Hamburg. Gedeckt von der nachvollziehbaren moralischen Empörung und der Politik werden hier Grundrechte ausgehebelt. Das sind hochautoritäre Tendenzen, die am Ende auch andere Ak­teu­r:in­nen treffen werden.

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