Machtwechsel in der Ukraine 1944: Wo Geschichte zur Waffe wird

Vor 80 Jahren eroberte die Rote Armee Lwiw von der Wehrmacht. Nicht alle empfanden das als Befreiung. Ein Diskussionsabend in Berlin.

Soldaten tragen die Särge zweier Unteroffiziere der ukrainischen Armee aus einer Kirche in Lemberg

Gefallen im aktuellen Krieg: Zwei Unteroffizieren der ukrainischen Armee in Lviv werden im April 2024 beerdigt Foto: Francisco Seco/ap

Im ukrainischen Lwiw gibt es in diesem Jahr trotz eines runden Jahrestags wenig zu feiern. Vor 80 Jahren eroberte die Rote Armee das frühere Lemberg von der Wehrmacht zurück. Doch als Befreiung empfanden viele Menschen diesen Machtwechsel nicht, der mit neuen Kämpfen und neuem Terror daherkam.

Eben jener Herrschaftswechsel stand am Dienstagabend im Berliner Museum Karlshorst (ehemals Deutsch-Russisches Museum) im Mittelpunkt einer Veranstaltung, die einigen Widerspruch im Publikum auslöste. Es ging um ukrainische Nationalisten, sowjetische Machtpolitik, zerstörte polnische Hoffnungen – und um den Krieg Putins gegen die Ukraine. Aber wurde dabei der „Faschismus wieder salonfähig gemacht“, wie ein Besucher mit bebender Stimme anmerkte?

Dabei hatten sich die Vortragenden um einen betont sachlichen Vortrag bemüht. Der Historiker Kai Struve benannte die Eckpunkte der Entwicklung vor 80 Jahren, Liana Blikharska vom Museum „Territorium des Terrors“ in Lwiw steuerte die aktuelle ukrainische Debatte bei.

Die Nazis hatten bis 1943 fast alle Juden im multikulturellen Lemberg ermordet. Das Ende ihres Terrorregimes 1944 weckte Hoffnungen: Die polnischen Bewohner setzten auf eine Wiederangliederung an Polen, so wie vor dem sowjetischen Überfall 1939. Viele Ukrainer bevorzugten einen eigenen Nationalstaat. Stalin schließlich ging es um eine Wiedereingliederung des Gebiets in die Ukrainische Sowjetrepublik.

Wer ist Täter, wer Opfer?

Die Kurzfassung der Geschichte lautet, dass Moskau diese Wiedereingliederung gelang. Verbunden war dies freilich mit hunderttausenden Toten und Vertriebenen. Alle Polen hatten auf Geheiß Moskaus Lemberg zu verlassen. Aber wer hier die Täter, wer die Opfer waren, das rührt an eine Erzählung, die über Jahrzehnte hinweg in der UdSSR und ihren Satelliten tradiert worden ist.

Diese Erzählung trägt einen Namen: Stepan Bandera. Der ukrainische Nationalist hatte 1941 den Einmarsch der Wehrmacht unterstützt und mit den Deutschen kollaboriert. Seine Ukrainische Aufständische Armee OUN wechselte erst 1943 die Seiten. Danach bekämpfte deren militärischer Arm UPA sowjetische Truppen und ermordete polnische Zivilisten.

Das Ziel: ein ethnisch reiner ukrainischer Staat. Mehr als 150.000 Menschen starben, 200.000 Ukrainer ließ Stalin deportieren. Der Konflikt endete erst Anfang der 1950er Jahre.

War dies also eine Art Befreiungsbewegung? Nein, sagte Struve mit dankenswerter Klarheit, es handelte sich um eine „verbrecherische Organisation“. Tatsächlich kämpften in der UPA desertierte Polizisten, die den Nazis beim Judenmord geholfen hatten. Blikharska berichtete über die jüngste polnisch-ukrainische Aussöhnung. Sie machte klar, dass Bandera in der heutigen Ukraine durchaus unterschiedlich betrachtet werde.

Mitten im aktuellen Krieg

Deshalb war der Abend in Berlin-Karlshorst so strittig. Es ging hier nicht um das Unterkapitel einer vernachlässigenswerten Geschichte; vielmehr befanden wir uns mitten im aktuellen Krieg zwischen Russland und der Ukraine, insbesondere aber bei Putins Begründung, man müsse den Nachbarn „denazifizieren“. Ukrainischer Nationalstaat und Faschismus, das geht bei Putin Hand in Hand.

In Lemberg findet eine lebendige Debatte um Geschichte statt, betonte Blikharska. Das selektive historische Gedenken aus Sowjetzeiten gehöre der Vergangenheit an. Es gehe ihr darum, die damaligen Vorstellungen aller Bewohner Lembergs zu erforschen, der Ukrainer, Polen und Juden.

Von einer solchen Diskussion über den Stalinismus und seine Verbrechen sei Moskau dagegen weit entfernt, sagte Historiker Struve. Deshalb kommt Putin mit seiner Legende von den Faschisten in Lemberg bei den Russen durch. So macht er Geschichte zur Waffe.

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