Forscherin über True-Crime-Formate: „Faszination für das Echte“

Psychologie von Täter_innenschaft, Bedürfnis nach Gerechtigkeit: Forscherin Christine Hämmerling erklärt, was True-Crime-Formate so reizvoll macht.

Drei Frauen stehen nebeneinander vor einer quergestreiften Wand.

Teilnehmerinnen auf der CrimeCon, einem Kongress für wahre Verbrechen, in Orlando Foto: James Jackman/nyt/redux/laif

wochentaz: Der Klischee-Sonntagabend eines Deutschen beginnt mit der „Tagesschau“, im Anschluss läuft „Tatort“. Warum wollen sich so viele nach Nachrichten über Krieg und Krisen noch Mord und Totschlag anschauen, Frau Hämmerling?

Christine Hämmerling: Kurz gesagt gehen die Nachrichten mit dem „Tatort“ weiter. Denn der „Tatort“ ist ein Spezialformat. Er ist nicht nur eine fiktive Kriminalgeschichte, sondern hat den erklärten Anspruch, aktuelle gesellschaftliche Fragen zu thematisieren und damit das Publikum zum Reflektieren einzuladen. Dieser Anspruch führt dazu, dass Zuschauer_innen am nächsten Tag über den Krimi im Büro sprechen. Einfach, weil er Themen behandelt, die die Leute bewegen.

Jahrgang 1983, ist Kulturwissenschaftlerin und assoziierte Forscherin der Universität Zürich. Zu ihren Schwerpunkten zählen Medienanalyse und Konsumforschung.

Ist diese Liebe zum Krimi etwas spezifisch Deutsches?

Auch im skandinavischen Raum gibt es eine ausgeprägte Liebe zum Krimi, in anderen Ländern existieren eher Mischformen mit anderen Genres. In Deutschland gibt es einen großen Markt für den klassischen Krimi, der aus der Perspektive eines Ermittlerteams erzählt wird. Das liegt am relativ großen Vertrauen der Deutschen in den Rechtsstaat, das nicht überall gegeben ist.

Während der „Tatort“ vorrangig von einem älteren Publikum geschaut wird, stehen Jüngere eher auf das Genre „True Crime“ – also Podcasts, Serien, Filme und Bücher, die von wahren Verbrechen erzählen. Seit dem US-amerikanischen Podcast „Serial“ von 2014 über den Mord an einer Schülerin in Baltimore spricht man von einem Hype. Aber ist das überhaupt eine neue Entwicklung?

Neu ist, dass sich der Markt durch internationale Streamingdienste erweitert hat. True Crime ist mittlerweile aber auch einfach ein Dach, unter dem immer mehr gefasst wird. Was früher mal eine Dokumentation war, ist heute gleich True Crime. Die Idee des Edutainment hat in den 1970ern Fahrt aufgenommen. Seitdem hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass man Nachrichten und reale Dinge mit unterhaltenden Aspekten vermischen darf. Immer mehr Unterhaltungsformate haben zugleich wiederum den Anspruch, dass sie etwas mit der Realität zu tun haben.

Weil uns Reales mehr fasziniert als Fiktives?

Ja, es gibt einfach eine Faszination für das Echte. Doch uns begeistert nicht unbedingt der Mord an sich, sondern eher die Frage, was bei Ermittlungen verpasst oder falsch gemacht wurde. Das Publikum verspürt den Wunsch, „hinter die Kulissen“ zu schauen.

In den Produktionen kommen Täter_innen, Opfer, Journalist_innen oder die Polizei vor. Für wen sollen wir Sympathie entwickeln?

Manche Formate wollen provozieren und nehmen absichtlich die Perspektive des Täters ein, spielen also damit, sich mit ihm zu identifizieren. Andere Formate fokussieren Angehörige und Opfer. Das schafft Nähe und wirkt legitimierend, weil Opfer gehört werden müssen. Am häufigsten wird aber die journalistische, investigativ erforschende Perspektive eingenommen. Auch sie stellt ein Identifikationsangebot für uns dar. Im Idealfall ist die „Ermittler_in“ eine sympathische Figur, die wir auch als Charakter interessant finden. In letzter Zeit sind das immer häufiger Frauen.

Oft sind Frauen nicht nur die Ermittlerinnen, sondern auch die Opfer in den Geschichten. Und sie sind ein Großteil des Publikums. Warum ist das Genre so weiblich besetzt?

Das Genre Krimi ist schon lange weiblich konnotiert. Bei Umfragen zu True-Crime-Hörer_innen bin ich immer ein bisschen skeptisch, weil die Frage ist, was genau dem Genre zugerechnet wird und was nicht. Diese Auseinandersetzung mit der Psychologie von Täterschaft – vielleicht finden Frauen das spannender als Männer. Grundsätzlich denke ich aber, dass Empathie mit den Opfern und der Wunsch nach Gerechtigkeit etwas grundsätzlich Menschliches ist.

Empathie und Gerechtigkeit sind sehr positive Werte. Viele argumentieren, es sei moralisch nicht richtig, sich durch wahre Verbrechen unterhalten zu lassen.

Das ist ein Diskurs, dem ich schon bei meinen Tatort-Studien begegnet bin. Damit ich mich durch etwas unterhalten oder gut fühlen darf, braucht es in unserer Gesellschaft eine Art ethische Legitimierung. Dabei existieren verschiedene Varianten. Eine ist Aufklärung, also die Idee, Fällen Aufmerksamkeit zu schenken, damit sie gelöst werden können. So wie bei der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY… Ungelöst“. Das andere ist, eine Perspektive zu einem Kriminalfall zu ergänzen, die bisher nicht publik gemacht wurde. Bei historischen Events kann es darum gehen, Narrative geradezurücken. Nicht zuletzt können True-Crime-Erzählungen eine Warnung sein, damit ähnliche Fälle nicht wieder passieren. Neue Formate müssen ja aber nicht immer nur Mordfälle behandeln, sondern sie können genauso gut Betrug, Sekten oder andere kriminelle Zusammenhänge thematisieren.

Doch führt das nicht dazu, überall Gefahren zu sehen? Schließlich wird das Sicherheitsgefühl der Deutschen immer schlechter, obwohl Straftaten weniger werden.

Was wir als Unterhaltung konsumieren, kann sich grundsätzlich auf unser Erleben der Alltagswelt auswirken. Natürlich heißt das nicht, dass Frauen immer, wenn sie in der Dunkelheit einen Weg entlanglaufen, glauben, dass sie getötet werden. Aber es kann dazu führen, Dunkelheit schneller als Angstraum zu begreifen, weil ich das aus fiktiven Formaten so kenne.

Dazu kommen die möglichen Auswirkungen auf potenzielle Täter_innen. Gibt es den viel befürchteten Effekt der Nachahmung?

Bei jedem Krimi gibt es die Möglichkeit, dass potenzielle Täter_innen auf Ideen gebracht werden. Das Nachahmungspotenzial wird ja nicht kontrolliert, lediglich Altersbeschränkungen können gesetzt werden. Zugleich könnte True Crime auch eine kanalisierende Wirkung haben, wie wir das aus der Forschung zu Ego-Shootern kennen. Das Spiel kann für die Spielenden eine Möglichkeit sein, Aggressionen rauszulassen. Ich denke aber, dass die meisten True-Crime-Erzählungen eigentlich so gestaltet sind, dass nicht das Verbrechen das Befriedigende ist, sondern das gerechte Aufklären.

Das heißt, die heftigen Warnungen vor True Crime sind nicht gerechtfertigt?

Das kommt auf die Art der Warnung an. Wenn Angehörige beklagen, dass sie ungerecht behandelt worden seien während der Recherche, dann ist das unbedingt ernst zu nehmen. In der Debatte um True Crime sieht man außerdem, dass gesellschaftlich der Eindruck vorherrscht, dass Menschen, die Gewaltverbrechen begangen haben, ihr Recht über das eigene Narrativ ein Stück weit verwirkt hätten. Gerade wenn Menschen nicht mehr am Leben sind, ist die Freiheit, Geschichten zu fiktionalisieren, noch größer. Aber allgemeine Warnungen vor True Crime stützen sich meist auf Kritik an einzelnen Formaten, wie der Netflix-Serie über den Serienkiller Jeffrey Dahmer, die besonders drastisch sind, und verlieren dabei die Breite des Genres aus dem Blick.

Glauben Sie, der Hype um True Crime wird irgendwann enden?

Ich war schon fasziniert, dass er sich überhaupt so lange hält. Aber inzwischen gehe ich davon aus, dass das Genre sich einfach noch weiter ausdifferenzieren wird. Was natürlich passieren kann, ist, dass True Crime irgendwann als Label so sehr nach den 2010er Jahren klingt, dass man es nicht mehr nutzen möchte. Aber ganz vorbei sein wird es nie. Wir werden immer von Verbrechen fasziniert sein.

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