Zum Tod der Autorin Alice Munro: Das Schreiben hat sie sich erkämpft

In ihren Kurzgeschichten leuchtete Alice Munro die Lücken in Beziehungen aus. Nun ist die Literaturnobelpreisträgerin im Alter von 92 Jahren gestorben.

Alice Munro

Die Erfahrung des Mangels prägte viele ihrer Geschichten. Alice Munro (1931–2024) Foto: Chad Hipolito/ap

„Sie redeten wie Karikaturen, es war unerträglich.“ Das ist ein Gedanke von Meriel, einer jungen, nicht besonders glücklichen Ehefrau, die gerade zu ahnen beginnt, dass sie sich heute auf einen Seitensprung einlassen wird. Aber was sie dabei sagt, wie sie sich bewegt, nichts davon scheint ihr angemessen.

Sich selbst zu beobachten und von sich enttäuscht zu sein, das sich real entwickelnde Abenteuer mit Fantasien zu überblenden, an die die Wirklichkeit nicht herankommt: In dieses Kopfkino der nervösen jungen Frau steigen wir Leser unmittelbar ein in der Erzählung „Was in Erinnerung bleibt“ von Alice Munro.

Sie braucht nicht viele Sätze, um das mögliche Unglück der jungen Ehefrau anzudeuten, verheiratet mit Pierre, der gerade „lernen“ muss, „wie man vor dem Chef katzbuckelt, wie man die Ehefrau gängelt“. Alice Munro bemüht keine feministische Empörung, um den begrenzten Spielraum von Frauen zu beschreiben, skizziert dessen Ränder aber mit wenigen ironischen Strichen. Um dann die ganze Aufmerksamkeit dem Irrlichtern der Gedanken von Meriel zu widmen.

Drei Bände mit Erzählungen von Alice Munro habe ich noch im Regal, andere sind weitergewandert, verschenkt. Denn ihre Geschichten zu teilen, gehört zum Vergnügen der Munro-Lektüre. Das hat sie nicht zuletzt zu einer kommerziell erfolgreichen Autorin gemacht.

Viele werden jetzt womöglich, aus Anlass der Nachricht ihres Todes mit 92 Jahren, noch einmal nach den Büchern der 2013 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten, kanadischen Autorin greifen. Und gleich wieder gefangen sein von der Genauigkeit der Beobachtung, dem präzisen Ausleuchten der Lücken zwischen dem, was die Protagonistinnen von sich erwarten und dem, was sie denken, was andere in ihnen sehen.

Geschichte einer Demenzkranken

Nach der Verleihung des Nobelpreises sind zwar noch einige Erzählbände auf Deutsch erschienen, aber schon damals hatte sie sich als Autorin zurückgezogen. Sie litt an Demenz und lebte die letzten Jahre in einem Pflegeheim. Zu einer ihrer bekanntesten Kurzgeschichten gehörte „Der Bär kletterte über den Berg“, 2006 von Sarah Polley mit Julie Christie verfilmt („An ihrer Seite“). Es ist die Geschichte einer demenzkranken Frau, die ihren Ehemann nicht mehr erkennt (meistens) und sich neu verliebt.

Beziehungen spielen in vielen Geschichten von Munro eine große Rolle, aber ebenso, was man in der Erinnerung daraus macht. Denn das Drehbuch der Erinnerung ist nicht festgelegt. In der Erzählung „Was in Erinnerung bleibt“, bezieht Meriel aus der Erfahrung, begehrt worden zu sein, jahrelang ein besseres Selbstvertrauen.

Lange glaubt sie, dass das Gedankenspiel, ein anderes Leben wäre möglich gewesen, ihr das reale Leben erträglicher gemacht hat. Aber dann nimmt, was dieses kostbare Geheimnis für sie bedeutet, eine Wendung. Sie erkennt darin auf einmal eine „unbequeme Wahrheit über das eigene Ich“, „einen haushälterischen Umgang mit Gefühlen“, der soziale Sicherheit über die große Leidenschaft stellte, mit nicht einmal kleinem Gewinn.

Alice Munro wurde 1931 in Ontario geboren, die kanadische Provinz und Landschaften, die sich den Bemühungen der Menschen manchmal durch gleichgültige Grausamkeit widersetzen, prägen viele Erzählungen. Ebenso die Erfahrung des Mangels.

Die Forderungen des Alltags

Ihre Eltern waren mit einer Silberfuchsfarm gescheitert, von der Verbitterung des Vaters erzählte sie in dem autobiografischen Band „Wozu wollen Sie das wissen – Elf Geschichten aus meiner Familie“. Dort beschrieb sie auch, wie sie schon bei Sommerjobs als Schülerin zu spüren bekam, mit welchen fein geschliffenen Mitteln soziale Hierarchien hergestellt und verfestigt werden, aber noch keine Sprache dafür besaß. Später davon erzählen zu können, ist auch ein Zeichen von lang erarbeiteter Souveränität.

Munro vermittelte von sich das Bild einer Autorin, die sich das Schreiben erkämpfen musste, abknapsen von den Forderungen, die vier Kinder und Alltag mit Ehemann an sie stellten. Gedanken, die beim Kartoffelschälen kamen, schnell im Wohnzimmer aufschreiben. Sie erzählte in Interviews von der Schreibmaschine, die zwischen Waschmaschine und Trockner stand.

Die Hartnäckigkeit, mit der sie trotz schwieriger Umstände am Schreiben festhielt, findet sich in den Erzählungen selbst oft beiläufig eingestreut. Lesen und darüber reden hilft ihren Figuren über Krisen hinweg. Ihre Liebeserklärungen an das Erzählen haben andere Au­to­r:in­nen bewegt, wie Margaret Atwood oder Jonathan Franzen.

Munros Ton war nie heroisch, Opfer und Täter keine Kategorien in ihrem Blick auf die Welt. Das Unterlaufen des Dramatischen, die Zurückhaltung lassen sie auch als Meisterin des Understatements sehen.

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