Packendes Fundstück: Die Landfrauen von Kehdingen

In "Annas Lied" ließ Ingrid Anna Fischer 1983 fünf alte Landfrauen zu Wort kommen. Nun wurde der Film als DVD herausgebracht.

Viele Annas arbeiteten als Näherin: Szene aus dem Film "Annas Lied". Bild: Anna Fischer

KEHDINGEN taz | Wer weiß heute noch, dass ein „Hieb“ eine Maßeinheit für Butter war, die mit dem „Hiebholz“ portioniert wurde? Schon als Ingrid Anna Fischer 1983 ihre Dokumentation „Annas Lied“ drehte, war dies ein so gut wie ausgestorbenes Wort. Schon damals forschte sie nach einer vergangenen Kultur, als deren Zeitzeugen sie fünf alte Landfrauen aus ihrer Heimat Kehdingen porträtierte.

Es war also einmal eine Zeit, da hießen fast alle Arbeiterinnen, Näherinnen, Tagelöhnerinnen und Dienstmädchen an der unteren Elbe „Anna“. Die Filmemacherin selber wurde nach ihre Großmutter so getauft, und als diese „in die Grube gesenkt wurde“, entschied sich die damals 38-Jährige, einen Film über Frauen wie sie zu machen, weil diese „sonst nie zu Worte kommen“.

Der Film wurde auf der Berlinale aufgeführt, bekam gute Kritiken, lief sogar in einigen Kinos und wurde im Fernsehen gezeigt. Doch dann geriet er in Vergessenheit, bis Ingrid Anna Fischer im letzten Jahr aus München zurück nach Stade zog. Dort engagierte sie sich als Heimatforscherin und wunderte sich darüber, dass einige sich noch an ihren Film von damals erinnerten. Eigentlich wollte sie ihn nur noch einmal auf einer großen Leinwand zeigen, aber es schien keine einzige Filmkopie mehr zu geben.

Dann wurde der Förderkreis Alt Stade aktiv: Nach einer intensiven Suche fand sich noch eine Belegkopie beim Bundesarchiv, diese wurde restauriert und digitalisiert. Nun gibt es eine DVD, die in den verschiedenen Museen von Stade verkauft wird.

Der Film entpuppt sich als ein faszinierendes Fundstück, das gut gealtert ist, weil in ihm zugleich konkret und universell erzählt wird. Der zärtliche Umgang mit den Porträtierten sowie der langsame, aber nie langatmige Erzählstil erinnern an Filme von Volker Koepp wie „Herr Zwilling und Frau Zuckermann“ oder „Kurische Nehrung“.

So zeigt Ingrid Fischer genau in der Mitte des etwas über zwei Stunden langen Films fünf Minuten lang nichts anderes, als zwei von den Landfrauen, die sich ihre langen Haare kämmen und zu einem Dutt zusammenstecken.

In langen Einstellungen wird auch gezeigt, wie auf einem Waschbrett gewaschen, Getreide gebunden, an einem Spinnrad Wolle gesponnen oder eine Flugente durch einen Schnitt in den Kopf getötet wird. In einer der wenigen komischen Sequenzen versucht die Filmemacherin, mit einem Stock über einen Graben zu springen und landet im Matsch. Die über 80-jährige Anna schwingt sich dagegen mit einer verblüffenden Eleganz über das Wasser.

In anderen Sequenzen probiert Ingrid Anna Fischer ein schwarzes Kleid ihrer Großmutter an, lässt sich von einer der Annas im Stil jener Zeit frisieren und spielt wie ein Kind mit einer uralten Singer-Nähmaschine. So zeigt sie ihre Verbundenheit mit diesen Frauen und ihrer Kultur.

Fischer will sich mit ihrer Filmkunst nicht über sie erheben, sondern ihnen gerecht werden. Ihr feministischer Ansatz wird auch dadurch deutlich, dass sie nur einem Mann, und diesem mit spürbarem Zögern – lange sitzt er nur unsichtbar neben seiner Frau auf dem Sofa –, Raum in ihrem Film gewährt. Aber er ist nun mal der ideale Gatte, mit dem eine der Annas ihre goldene Hochzeit feiert und innig in der Dorfkneipe zum „Schneewalzer“ tanzt.

Als eine Art Leitfaden werden immer wieder Passagen aus einem handgeschriebenen und illustrierten Haushälterinnenbuch gezeigt, in denen peinlich genau die Pflichten und Zuteilungen der Dienerschaft eines bäuerlichen Gutshofes beschrieben werden.

Und auch sonst ist „Annas Lied“ mit seinen elegischen Landschaftspanoramen, den fließend montierten historischen Fotos und dem liebevollen Blick auf die vier Landfrauen, die sich offensichtlich bei den Aufnahmen wohlfühlen und Stärke und Fröhlichkeit ausstrahlen, ein irreführend schöner, harmonischer Film geworden.

Dabei erzählen die Frauen von einem extrem harten Leben. Die eine war als Kind so hungrig, dass sie sich Kartoffeln aus dem Schweinetrog holte, die andere wollte ausbrechen und arbeitete eine Zeit lang als Dienstmädchen in einer Villa in Cuxhaven. Doch dort musste sie im Keller auf einer Holzpritsche schlafen, und „so erniedrigen lassen wollte ich mich nicht“.

In diesem Film machen der Tonfall und die Zwischentöne die Musik. Alle fünf Annas sind gute Erzählerinnen, und Ingrid Anna Fischer hat ein gutes Ohr für ihren lakonischen Witz. Weil der Film eine inzwischen vergangene Lebensweise so authentisch, komplex und voller Mitgefühl darstellt, ist „Annas Lied“ mehr als nur ein Mitbringsel aus dem Heimatmuseum von Stade.

Die DVD „Annas Lied“ kann für 15 Euro unter bestellt werden
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