Midlife-Crisis als Chance: Bin das wirklich ich?

Kaum hat man sich im Dasein eingerichtet, trifft einen, zack, die Midlife-Crisis. Dabei stellt diese eine nicht ganz unwesentliche Frage ans Selbst.

Ein Mann mittleren Alters sitzt auf einem Fahrrad, das nicht fährt, weil ihm das Vorderrad fehlt

Fuck it! Foto: Benjakon

Man kann und soll jede Lebenskrise ja als Chance begreifen – so heißt es. Und einerseits ist das wohl auch tatsächlich so.

Aber andererseits mal im Ernst: Fuck it! Das ist doch viel zu schnell vom Ergebnis her gedacht, dem möglicherweise glücklichen Ausgang. Hinterher kann man sich immer Einordnendes und Tröstliches erzählen. Doch zunächst ist man drin in der Krise, und so etwas kann einen ganz schön beuteln, das ist echt kein Spaß, wirklich nicht. Die Wahrheit ist: Wir alle sind die Leidtragenden, die Dompteure und irgendwann auch die Veteranen unserer Lebenskrisen, der großen wie der kleinen, ob es einem nun gefällt oder nicht.

In dem Ensemble der Krisen, mit dem wir unser Leben inzwischen – wenn auch tief seufzend – zu beschreiben gelernt haben, ist die Midlife-Crisis dabei so etwas wie eine schillernde, teilweise illegitime Verwandte, in manchem aber auch die große Schwester. Sie hat etwas Fragwürdiges, aber auch Unterhaltsames, sie kann einen dumm machen, aber auch klug.

Anders als die Pubertät oder eine Altersdepression fußt sie nicht unbedingt auf körperlichen Veränderungen oder sozialem Rollenwechsel. Anders als die Quarterlife-Crisis (Übergang vom Studium zum Berufsleben) oder das Leere-Nest-Syndrom (Neuorientierung, wenn die Kinder ausgezogen sind) ist sie nicht direkt auf konkrete Veränderungen der Lebenssituation zurückführbar. Und anders als beim Burn-out gibt es nicht zwangsläufig äußere Ursachen wie Stress und Überforderung, die sie getriggert haben.

Es ist ein etwas seltsames, auch geheimnisvolles Geschöpf, diese Midlife-Crisis. Manche Menschen würden rundheraus bestreiten, dass es sie überhaupt gibt. Andere – mich eingeschlossen – können bezeugen, dass sie sehr wohl existiert und einem den Boden unter den Füßen wegziehen kann. Mitten im Leben kann sie einen erwischen, gerade wenn man glaubt, sein Leben einigermaßen auf die Reihe gekriegt zu haben.

Wie eine Leuchtschrift am Himmel

Man hat sich halbwegs eingerichtet in seinem Dasein. Ausbildung, Berufseinstieg, Familiengründung hat man hinter sich gebracht oder auch nicht, auf jeden Fall könnte jetzt erst einmal alles so weitergehen (sonst hätte man andere Krisen) – doch, zack, wie eine Leuchtschrift am Himmel, wie eine unbezweifelbare Bassstimme aus dem Untergrund, wie eine plötzliche Veränderung der Tiefenschärfe in einem Hitchcock-Film taucht plötzlich dieser Rilke-Vers vor dem inneren Auge auf: „Du musst dein Leben ändern“ (aus dem Gedicht ­„Archaïscher Torso Apollos“). Und er geht von selbst nicht mehr weg.

Das so Interessante daran: Die Midlife-Crisis ist eine Krise für Etablierte – aber das Erreichte zählt eben nicht mehr, das ganze Leben steht auf des Messers Schneide. Man steckt in einer Entscheidungssituation. So wie es der klassische Begriff der Krise besagt, der ursprünglich aus der Medizin stammt und den Moment bezeichnet, in dem ein Krankheitsverlauf sich zum Guten (der Gesundung) oder zum Schlechten (dem Tod) entwickeln kann.

Eine Midlife-Crisis schafft also Drama, wo Kontinuität, sie generiert Aufregung, wo Ruhe hätte sein können. Aus der Ferne sieht sie manchmal einfach lösbar und sogar lächerlich aus. Von innen heraus fühlt sie sich aber mächtig und unhintergehbar an.

Schriftsteller, Psychoanalytiker und andere Lebensdeuter brauchten lange, um ein geschlossenes Bild von ihr zu vermitteln. Lebenskrisen, die einem in der Mitte des Lebens aus heiterem Himmel ereilen können, wurden in früheren Zeiten als Glaubenskrisen beschrieben (ein großartiges spätes Zeugnis davon ist der Roman „Gott und die Wilmots“ von John Updike), als Erkenntniskrisen (Kleist, später Stichwort Trans­zen­dentale Obdachlosigkeit) oder als Ausdruck eines genialischen Künstlerringens (der zergrübelte Beethoven).

Sinn- und Schaffenskrisen wurden besonderen Menschen zugestanden, Ausnahmepersönlichkeiten, während der sogenannten breiten Masse ein ruhiges, stabiles Erwachsenenleben versprochen und anempfohlen wurde: Schuster, bleib bei deinen Leisten und du wirst ein geregeltes Auskommen haben – das Mittelklasse-Versprechen der sozialen Marktwirtschaft.

Dass so ein Erwachsenenleben aber auch dann, wenn äußerlich alles einigermaßen glückt – oder vielleicht sogar gerade dann –, so stabil gar nicht ist, ist eine noch gar nicht so alte Erkenntnis. Der inzwischen wieder etwas vergessene Psychoanalytiker Erik Erikson hat sie mit seiner Theorie von den Lebensphasen und den prinzipiell krisenhaften Übergängen zwischen ihnen ab den fünfziger Jahren in die Welt getragen. Durch die Erfindung der Pubertät als Mischung aus Jugendlichkeit, Rock ’n’ Roll und Protesthaltung gegen die Erwachsenenwelt bekam diese Lehre Evidenz.

Die Angst, das mühsam Erreichte zu verlieren

Popularisiert wurde die Midlife-Crisis in den siebziger Jahren durch Bücher wie „In der Mitte des Lebens“ von Gail Sheehy, ein Weltbestseller damals. Der Zeitpunkt ist interessant: Achtundsechzig war vorbei, Bob Dylans „The Times They Are a-Changin'“ verhallt, zugleich diffundierten die in den Gesellschaftsprotesten erkämpften Freiheits- und Liberalisierungsgewinne in die Breite der Gesellschaft.

In den Vororten und experimentierfreudigen Milieus der Unistädte begann man vom eigenen Leben nicht nur zu träumen, sondern es tatsächlich umzusetzen. Emanzipation, Selbstbestimmung, das Hinterfragen von Rollenmustern, das alles wurde zu Projekten. Man wollte intensiv leben. Gleichzeitig gab es aber auch die Angst, das mühsam Erreichte – ganz konkret zum Beispiel das Eigenheim im Vorort – wieder zu verlieren.

Das Leben wurde also kompliziert, Ambivalenzen kamen auf, und die Popularisierung der Midlife-Crisis zu diesem Zeitpunkt lässt sich verstehen als Ausdruck dieser zum Wohlstand kommenden und sich zugleich von traditionellen, etwa religiös fundierten Rollenbildern verabschiedenden und sich einer beispiellosen „Fundamentalliberalisierung“ (Habermas) verschreibenden Gesellschaft.

„Die meisten Menschen führen ein Leben in stiller Verzweiflung“, lautet ein berühmtes klassisches Zitat von Henry David Thoreau. Das war nun aber nicht mehr so. Ab den siebziger Jahren konnte man in einer bis dahin für die Breite der Bevölkerung unbekannten Weise ein eigenes Leben führen. Nur tauchte damit die Frage auf, ob man auch wirklich will, was man bekommen hat. Und da konnte einem niemand – keine Autorität, keine Tradition – mehr helfen; das musste man ganz mit sich selbst ausmachen.

Genau das ist die Frage, die die Midlife-Crisis an einen stellt. Mit der Möglichkeit, ein eigenes Leben zu führen, ist eben auch verbunden, dass man falsche Entscheidungen trifft. Außerdem muss man auch erst einmal selbst für sich herausfinden, was das nun genau für einen ist: ein eigenes Leben. Diese Suchbewegung und Selbsthinterfragung machen die Midlife-Crisis so schillernd.

Ohne Selbstreflexion ist ein eigenes Leben nicht zu haben

Nun ist seit den siebziger Jahren inzwischen wieder viel Zeit vergangen, vieles hat sich dabei verändert. Manches zum Vorteil. So ist man heute längst nicht mehr auf eine dermaßen festgelegte Art und Weise erwachsen, wie man es damals noch sein musste; bohemistische Lebensweisen sind längst in den Alltag eingedrungen, man kann sich ganz anders ausprobieren, auch mal neu erfinden – oder wie die gängigen Formeln gerade lauten. Manche herausfordernde Entwicklung gab es aber auch: An die Stelle der Sicherheit der alten Bundesrepublik ist die flexibilisierte Arbeitswelt der Gegenwart getreten, mit neuen Möglichkeiten, neuen Gefahren und vielfältigen Verteilungskämpfen.

Auch die Midlife-Crisis hat sich geändert. Sie ist normaler geworden. Es gibt vielfältigere Möglichkeiten, ihr zu begegnen. Yoga, Malkurs, Sport: Dass solche Sachen helfen, ein innerlich reicheres Leben zu führen, weiß man inzwischen. Außerdem kann man inzwischen auch einfach so aus dem Alltagstrott und den karrieristischen Arbeitsprozessen aussteigen, ohne gleich nach Indien auszuwandern oder sein gesamtes soziales Umfeld in die Tonne zu treten.

Doch das fundamentale Muster der Midlife-Crisis ist geblieben. Es besagt, dass ein eigenes Leben ohne Selbstreflexion nicht zu haben ist – was immer man mit diesem Reflexionsprozess anfängt, ob er einen in eine narzisstische Selbstverwirklichung führt oder in die Übernahme von Verantwortung sich selbst und anderen gegenüber.

Vielleicht ist es also irgendwo einfach eine falsche Frage, ob es die Midlife-Crisis tatsächlich nun gibt oder nicht. Vielleicht wäre es sinnvoller, sich zu fragen, wie wir uns sie erzählen wollen und was wir mit ihrem Muster anfangen. Die Frage, ob man wirklich will, was man zu wollen meint, sollte man sich in der Mitte des Lebens durchaus stellen.

Kann ja sein, dass man sich bis dahin nur an gesellschaftlichen oder auch elterlichen Aufträgen abgearbeitet hat oder an vordergründigen Erfolgsmodellen. Die Midlife-Crisis sagt einem (und hier kommt eben der Vergleich mit der großen Schwester zum Tragen), dass man diese Frage nicht an andere delegieren, sondern sich nur selbst beantworten kann.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Dirk Knipphals, Jahrgang 1963, studierte Literaturwissenschaft und Philosophie in Kiel und Hamburg. Seit 1991 Arbeit als Journalist, seit 1999 Literaturredakteur der taz. Autor des Sachbuchs "Kunst der Bruchlandung. Warum Lebenskrisen unverzichtbar sind" und des Romans "Der Wellenreiter" (beide Rowohlt.Berlin).

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.