Fünf Jahre Wachkoma: Ein zweites Leben

„Ihr Gehirn ist kaputt“, lautete die Diagnose des Arztes. Fast fünf Jahre liegt Carola Thimm im Wachkoma. Sie kämpft sich nun ins Leben zurück.

Carola Thimm im Frühjahr 2015

Das O steht in der Tauchersprache für Okay – Carola Thimms erste sichtbare Kommunikation. Foto: Olaf Bathke

PREETZ taz | Mit schnellen Schritten eilt Carola Thimm die Treppe hinauf. In der einen Hand den Wohnungsschlüssel, in der anderen die Sporttasche. Noch bevor sie in der Wohnung ist, erzählt sie vom Yoga, wo sie gerade herkommt, und vom Zumba, wo sie nachher hingeht. Gegenüber, im Rehazentrum. Der Sport spielt eine zentrale Rolle in ihrem Leben, dem alten wie dem neuen. Tauchen und fliegen darf sie nicht mehr – wegen des gefährlichen Drucks im Kopf.

46 Jahre alt ist Carola Thimm heute. Sympathisch zerzaust stehen ihr die blonden Locken in alle Richtungen vom Kopf. Sie spricht schnell, hat viel zu erzählen und noch mehr nachzuholen. Fünf Jahre ihres Lebens.

„Da draußen, in der Feldmark, da ist es passiert“, sagt sie und deutet in Richtung Fenster. Es ist Pfingstmontag 2004. Sie schlägt den sandigen Waldweg ein, am kleinen See vorbei etwas außerhalb des ostholsteinischen Städtchens Preetz. „Dort bin ich gerne gejoggt“, berichtet Carola Thimm, „aber an diesem Tag bin ich gewalkt. Wegen der Schwangerschaft. Ich wollte kein Risiko eingehen.“

Sie lacht wie über einen schlechten Scherz. Was die werdende Mutter damals nicht wusste: In ihrem Kopf hatte sich ein Aneurysma gebildet, eine erweiterte Arterie im Gehirn.

Ja, doch – Kopfschmerzen hätte sie schon länger gehabt. Aber die hätten doch tausend Gründe haben können. Die Farbe im frisch gestrichenen Kinderzimmer zum Beispiel. „Ich wollte doch endlich eine Familie gründen.“ Nervös faltet sie ihre Hände, an ihrem Ringfinger wickeln sich zwei goldene Schlangen ineinander.

Die Vielgereiste

„Dieser Ring ist aus Kenia“, sagt Carola Thimm. „Da habe ich mir Schlangen um den Hals hängen lassen“, fügt sie noch hinzu und geht in ihr Schlafzimmer. An der Wand hängt eine große Weltkarte, übersät mit vielen Nadeln. „Da war ich wohl überall“, sagt sie stolz und verunsichert zugleich. Tunesien, Malaysia, Thailand, Venezuela, Florida, Türkei, Malta, Norwegen, Dänemark, Costa Rica. An die meisten Orte hat sie schöne Erinnerungen. Wieder. Wirklich erinnern kann sie sich nicht. Sie hat sich ihre Erinnerungen zurückgeholt, erarbeitet, mithilfe von Fotos und Akten, die ihr vergangenes Leben dokumentieren.

Carola Thimms Vergangenheit ist ein einziger Flickenteppich, zerrissen und zerlöchert. „Plötzlich war alles schwarz“, sagt die frühere Verwaltungsangestellte. Wieder steht sie am Fenster. Doch so sehr sie auch in die Ferne schaut, erinnern kann sie sich nicht. Nicht daran, wie ein Spaziergänger sie dort findet. Nicht, wie sie ins Krankenhaus kommt. Und auch nicht an die vielen Operationen, die folgen werden. Zu ihrem Schutz und dem des ungeborenen Kindes wird sie in ein künstliches Koma versetzt, verfällt dann in einen Zustand, den die Ärzte „Apallisches Syndrom“ nennen. Wachkoma, übersetzt Carola Thimm.

In einem Zustand zwischen Bewusstlosigkeit und Wachsein werden beim Wachkoma die lebenswichtigen Funktionen des Körpers aufrechterhalten. In der 32. Schwangerschaftswoche setzen bei Carola Thimm die Wehen ein, per Kaiserschnitt kommt das Baby zur Welt, die Mutter bleibt im Wachkoma. An die Geburt wird sie sich nie erinnern. Sie wird nicht verstehen, dass es ihr Kind ist, das in den nächsten Jahren zu ihr ins Krankenbett krabbelt. Das Kind wird sie umgekehrt als einen Menschen kennenlernen, der nicht spricht, sich nicht bewegt, nicht teilhat an seinem Leben.

Carola Thimm wird künstlich ernährt. Alle zwei Tage besuchen ihre Eltern sie in der 40 Kilometer entfernten Neurologischen Klinik in Bad Segeberg. Stundenlang sitzen sie am Bett ihrer Tochter, halten ihre Hand, reden mit ihr. Carola Thimm kann ihre Gesichter sehen, jedes ihrer Worte verstehen. Aber reagieren kann sie nicht darauf. Der Körper ist außer Gefecht gesetzt, ihr Kopf aber funktioniert. Und sie spürt die Nähe, die Zuwendung ihrer Eltern.

Als ihr Vater immer seltener mit in die Klinik kommt, beginnen ihre Gedanken zu rotieren. „Er ist enttäuscht, weil ich nichts mehr kann. Nicht sprechen, nicht einmal etwas zeigen.“ Erst Jahre später erfährt sie, dass ihr Vater im Juli 2007 an Krebs starb. Und dass sie auf seiner Beerdigung im Rollstuhl dabei war. Erinnern kann sie sich daran bis heute nicht.

Das Gehirn „wie ein Sieb“

„Mein Gehirn war wie ein Sieb“, erklärt Carola Thimm, „es ließ nichts Negatives durch. Als wollte es mich schützen. Meinem Körper ging es ja schlecht genug.“ An alles Positive dagegen kann sie sich erinnern, „an angenehme Gefühle und schöne Erlebnisse“.

Die Hoffnung auf Genesung hat sie in dieser Zeit niemals aufgegeben. In ihren Augen blitzt plötzlich Wut auf. „Sie hat keine Chance. Sie wird sterben. Und wenn sie nicht stirbt, wird sie sich nie wieder bewegen oder reden können. Ihr Gehirn ist kaputt!“, so lautete 2004 ihre Diagnose. Mehrfach hat sich ihre Mutter diese Worte anhören müssen. „Von diesem einen Arzt, diesem Dussel“, wie Carola Thimm ihn nennt. Das meint sie nicht besonders liebevoll.

Während sie regungslos in ihrem Krankenhausbett liegt, blass und aufgedunsen von den Medikamenten, steht ihre Familie nach drei Jahren Wachkoma vor Entscheidungen: Wer soll die teure Klinik weiter bezahlen? Wo kann sie sonst hin? Sie zu Hause zu pflegen, ist wegen der Krampfgefahr ausgeschlossen. Die Hoffnung auf eine Veränderung ihres Zustands haben zu dieser Zeit nicht nur die Ärzte aufgegeben.

Der Weg ins Leben zurück

„Wenn nach drei Jahren nichts passiert, passiert nichts mehr“ – zumindest in der Regel sei das so, erklärt Carola Thimm. Sie ist die Ausnahme von der Regel. Das Alten- und Pflegeheim in Preetz nimmt die Komapatientin auf. Mit einem Leuchten in den Augen schwärmt sie von dieser Zeit wie von einer ihrer Reisen. Sie erinnert sich gut daran, wie wohl sie sich dort gefühlt hat. Und dass ihre Mutter nun jeden Tag kommt.

Sie ist die Einzige, die noch an ihre Tochter glaubt. Sie liest ihr Bücher vor, dicke Schwarten, stapelweise. „Wenn etwas lustig war, habe ich gelächelt“, erklärt Carola Thimm mit einem verschmitzten Lächeln. „Und wenn es langweilig war, habe ich desinteressiert zur Seite geguckt.“ Ihre Mutter ist die Einzige, die in diesen Reaktionen mehr als bloßes Muskelzucken sieht.

Insgesamt fast fünf Jahre verbringt Carola Thimm im Wachkoma. Immer wieder hat sie starke Krämpfe, doch irgendwann werden ihre Medikamente umgestellt und sie wird langsam wacher. „Im Februar 2009“, sagt sie und hebt wortlos ihren rechten Arm, ganz langsam. Als ihre Hand die Höhe ihrer großen goldenen Ohrringe erreicht, macht sich ein vorsichtiges Lächeln in ihrem Gesicht breit.

Zeigefinger und Daumen bilden einen Kreis. „O wie okay“, erklärt sie die Bedeutung des Tauchzeichens. Ein Bekannter zeigt es ihr am Krankenbett. Und Carola Thimm beantwortet es mit der gleichen Geste. Und einem Lächeln. Es ist das erste Mal, dass sich die Frau mitteilen kann. Fortan geht es bergauf.

In kleinen Schritten nähert sie sich den großen Veränderungen in ihrem Leben, diesem Flickenteppich aus Erinnerungsfetzen und vielen schwarzen Löchern. Die meisten Namen, Daten, Gesichter sind anfangs wie ausgelöscht. Ihre Familie aber erkennt sie sofort. Dass das Mädchen auf dem Arm ihrer Schwester nicht deren zweites Kind ist, weiß sie nicht. Nur langsam stellt sich das Mutterglück ein, auf das sie sich so gefreut hatte.

Alles neu erlernen

Ihre Ehe hat das Wachkoma nicht überlebt. Aus dem Ehemann ist ein Helfer geworden, die Liebe aber verschwunden. Carola Thimm wird versuchen, sie wiederzufinden, Liebesbriefe schreiben. Bis zu acht Seiten lang. Vergebens. Der Vater ihrer Tochter hat sich neu verliebt.

Sie kämpft sich ohne ihn zurück ins Leben. Nach fünf Jahren Bewegungslosigkeit muss sie gehen lernen, stehen lernen, Treppen steigen. Dann kommen komplexere Tätigkeiten wie Zähneputzen, Wäschewaschen, Bettenbeziehen, Teekochen. Und Fahrradfahren. „Wenn man alles verlernt, verlernt man auch das“, sagt sie und lacht bei der Erinnerung. Wie ein Kleinkind habe sie es üben müssen.

Mittlerweile ist Carola Thimm ein zweites Mal erwachsen geworden. Nach fünf Jahren ohne Stimme kann sie problemlos wieder sprechen. Sogar schnell und viel. Und auch Lesen und Schreiben bereiten ihr keine Schwierigkeiten mehr. Carola Thimm hat ein Buch über ihr Wachkoma geschrieben.

Ihren Beruf als Beamtin im Sozialministerium kann sie nicht mehr ausüben. Sämtliche Erinnerungen an das Studium des Verwaltungsrechts sind weg. „Mein Gedächtnis ist zu schlecht, um es aufzufrischen. Mein Gehirn siebt zwar nicht mehr so wie im Koma, aber ich vergesse doch noch einiges.“

Die Tochter lebt beim Vater

Carola Thimm öffnet gedankenverloren eine Tür, auf der bunte Buchstaben kleben. Das Zimmer ihrer Tochter. Diese lebt beim Vater, verbringt aber die Hälfte der Ferien und jedes zweite Wochenende bei ihrer Mutter. Das musste sich Carola Thimm vor Gericht erkämpfen. Auf dem Schreibtisch steht ein kleines Skateboard. Carola Thimm stellt es auf den Boden. Erst runzelt sie die Stirn, dann huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. „Das haben wir zusammen auf dem Flohmarkt gekauft“, erinnert sie sich.

Im nächsten Moment schnappt sie sich Wohnungsschlüssel und Sporttasche und flitzt die Treppen im Hausflur hinunter, über die Straße – zum Zumba im Therapiezentrum gegenüber. Mit einem kräftigen Zug öffnet Carola Thimm die schwere Glastür und verschwindet in einem der Umkleideräume. Laute Musik tönt bis in den Eingangsbereich. Der Sport, erklärt Carola Thimm, als sie zurückkommt, habe ihr zurück ins Leben geholfen. Und mittlerweile gehe es ihr genauso gut wie früher.

Der Mann, dem sie das zu verdanken hat, der sie in der Feldmark fand, den kennt sie nicht. „Leider. Ich hätte ihn gern getroffen“, sagt sie und bindet die Schnürsenkel ihrer Turnschuhe zu. „So wie die Menschen in der Klinik“, fährt sie fort. Da war sie noch mal. Irgendwann, als es ihr besser ging. Einen Kuchen hatte sie gebacken. Für die Pfleger und die Krankenschwestern, die netten Therapeutinnen und die Frau aus dem Büro. Und ein bisschen auch für den Arzt. Ernst habe er ausgesehen, irgendwie erstaunt. „Dieser Dussel hat genau gesehen, dass er sich geirrt hat.“

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