Fairness: Gutes Leben, nicht für jeden

Das Konzept der „Umweltgerechtigkeit“ stellt die Frage, wie gut es sich in einem Kiez lebt. Der Senat hat dazu detaillierte Erkenntnisse – nur folgen tut daraus nicht viel.

Wie gut man in der Stadt wo lebt, hängt auch mit ökologischen Faktoren zusammen. Bild: DPA

Dass das Leben ungerecht ist, das gilt auch fürs Wohnen. Der eine lebt in der Beletage, die andere im Seitenflügel ohne Fahrstuhl. Weniger bekannt, aber ebenso bedeutsam ist die sogenannte Umweltgerechtigkeit: Sie stellt Fragen nach Luftreinheit, Lärm oder Stadtgrün an einem spezifischen Ort – und wie solche Faktoren mit dem sozioökonomischen Status der Bewohner zusammenhängen.

Für Berlin liegt seit Kurzem eine Art Atlas der Umweltgerechtigkeit vor: Die Senatsumweltverwaltung hat in den vergangenen Jahren in ganz Berlin verschiedene Indikatoren gesammelt und daraus eine Bewertung von insgesamt 447 Stadtsegmenten erstellt. Sonderlich überraschend sind die Ergebnisse nicht, aber in dieser Präzision lagen sie bislang nicht vor.

Die Kellerplätze des Rankings teilen sich drei der sogenannten Planungsräume (PLR): An der Heidestraße in Mitte sowie an Scharnweber- und Klixstraße in Reinickendorf haben alle fünf „Kernindikatoren“ eine schlechte Bewertung erhalten: 1. ist die Luft stark schadstoffbelastet, 2. dröhnen Autos, Bahnen oder Flugzeuge, 3. gibt es zu wenig Grünflächen in der Nähe, 4. ist das Bioklima mies – etwa weil zu wenig Luftaustausch stattfindet. Extrem „umweltungerecht“ also, weshalb 5. auch die soziale Mischung nicht stimmt.

Kaum besser ist es um 17 weitere PLR bestellt, die jeweils viermal ein „schlecht“ bekommen haben. Sieben davon liegen in Mitte, etwa an der Karl-Marx-Allee oder im Moabiter Beusselkiez. Die Bezirke Reinickendorf und Neukölln, aber auch Charlottenburg-Wilmersdorf tauchen hier zweimal auf, Friedrichshain-Kreuzberg, Spandau, Marzahn-Hellersdorf und Lichtenberg je einmal. Wie zu erwarten, ballen sich die „schlechten“ Kieze in der Stadtmitte – und in der Nähe des Flughafens Tegel.

Auch gut: Chamissoplatz

Auf der anderen Seite gibt es erstaunlich viele lebenswerte Stadträume: Nicht weniger als 145 PLR weisen laut Umweltverwaltung in keiner einzigen Kategorie einen Mangel auf. Dass die meisten in Grunewald, Zehlendorf, aber auch in Köpenick oder Frohnau liegen – wen wundert’s. Auch in der zweitbesten Gruppe (105 Räume, die nur in einer Kategorie schlecht abschneiden) finden sich vor allem Gebiete außerhalb des S-Bahn-Rings, aber beispielsweise auch die Straßen rund um den Kreuzberger Chamissoplatz. Kein allzu unerfreuliches Bild also, zumindest auf den ersten Blick. Schließlich sind die mehrfach belasteten Planungsräume meist viel dichter besiedelt als die voll guter Luft und Vogelgezwitscher.

Und was folgt aus diesen Erkenntnissen? Das wollte die Grünen-Abgeordnete Silke Gebel wissen und stellte eine schriftliche Anfrage an die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Aus der Antwort, die jetzt vorliegt, geht hervor: nicht allzu viel.

„Es ist nicht geplant, die Ergebnisse der Umweltgerechtigkeitsanalysen als Instrument verpflichtend in Planungs- und Genehmigungsverfahren einzubeziehen“, schreibt Staatssekretär Christian Gaebler (SPD). Man betrachte sie nur als „zusätzliche Orientierungs- und Entscheidungshilfe“. Zunächst erhielten die Bezirksämter Anfang kommenden Jahres die detaillierten Untersuchungsergebnisse zugestellt – in Form eines Berichts zum „Handlungsfeld Umweltgerechtigkeit“. Auch die Öffentlichkeit könne sich über den Webauftritt der Senatsverwaltung bald genauer informieren.

„Unerhört“ findet Silke Gebel, dass aus einem „mehrjährigen, hervorragenden Forschungsprojekt keine verbindlichen Schlussfolgerungen gezogen werden sollen“. Wenn es in konkreten Stadträumen erwiesenermaßen an Umweltgerechtigkeit mangele, müsse man dem ein Ende bereiten. Zudem fehle bislang eine genauere Untersuchung der konkreten gesundheitlichen Auswirkungen der beschriebenen Umweltbelastungen.

Dass die Verantwortlichen ihr eigenes Instrument nicht ernst genug nehmen, könnte auch daran liegen, dass das ressortübergreifende Projekt noch vom rot-roten Senat angestoßen wurde, namentlich von der damaligen Umweltsenatorin Katrin Lompscher (Linke) und ihrem Staatssekretär Benjamin-Immanuel Hoff, seit Kurzem Chef der thüringischen Staatskanzlei.

Lompscher, heute Mitglied der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, ist nach eigener Aussage schon froh, dass die Einstellung des Projekts verhindert werden konnte – ursprünglich drohte es den rot-schwarzen Einsparplänen zum Opfer zu fallen. Geplant habe man unter ihrer Ägide auch die Einführung einer bezirklichen Ausgleichsfinanzierung und die Vergabe von Fördermitteln für besonders belastete Gebiete, aber dazu kam es aufgrund des Regierungswechsels nicht mehr.

Auch die umweltpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Marion Platta, bedauert, dass die Erkenntnisse in Sachen Umweltgerechtigkeit nach derzeitigem Stand nicht verpflichtend in stadtplanerische Verfahren einbezogen werden sollen. Dass dies quasi freiwillig geschieht, mag sie nicht so recht glauben.

„In der Stadt herrscht enormer Baudruck “, so Platta, „und Wohnungsbau beeinflusst Umweltgerechtigkeit über den Verlust von Grünflächen oder neue Verkehrsströme direkt.“ Deshalb sei auch der von SPD- und CDU-Fraktion befürwortete Weiterbau der A 100 bis zur Frankfurter Allee falsch. Aber der aktuelle Senat nehme potenzielle Investoren ernster als Verbände, denen es um Lebensqualität gehe. Die Hoffnung gibt Platta aber nicht auf: Demnächst stehe die Novellierung der Berliner Bauordnung an, sagt sie, da ließen sich womöglich noch entsprechende Vorgaben durchzusetzen.

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