Die Wahrheit: Der jüngste Tag

Nach dem neuen Zivilschutzplan der Bundesregierung gerät in Berlin-Kreuzberg nicht nur die Vorratslage außer Kontrolle.

Eine Figur ohne Kopf

Ein ganz normaler Berliner Bürger, der beim Panikkauf leider seinen Kopf verloren hat Foto: ap

„Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“, wusste bereits der römische Komödiendichter Titus Maccius Plautus, und laut Informationen des großartigen „Online-Magazins für Spirituelle Lebensberatung“ Viversum kündigte Nostradamus auch für 2016 einmal mehr den Weltuntergang an. Diesmal aber wirklich.

Und endlich reagiert die Bundesregierung, auch wenn sie die Prophezeiung offiziell „verändertes politisches Umfeld“ nennt. „Die Bevölkerung wird angehalten, einen individuellen Vorrat an Lebensmitteln von zehn Tagen vorzuhalten“, plauderte die Süddeutsche Zeitung aus einer „Konzeption zivile Verteidigung“, die die Bevölkerung „im Notfall zum Selbstschutz befähigen“ soll, „bevor staatliche Maßnahmen anlaufen“.

Noch im August soll das Maßnahmenpaket, das unter anderem auch zur Bevorratung mit Trinkwassser, Decken, Kerzen und (sic!) Bargeld rät, vom Kabinett beschlossen werden.

Run auf Wasserhähne

Und schon hat der Run begonnen. Geldautomaten werden mit Traktoren aus der Verankerung gerissen oder mit Gas gesprengt. Tag und Nacht laufende Wasserhähne füllen Gläser und Eimer, Kanister und Kinderplanschbecken. Am schlimmsten aber stellt sich die Lage in Deutschlands Supermärkten dar. Die Regierung hat an die Eigenverantwortung der Bürger appelliert – und sie hat sie bekommen: In blinder Raserei fällt eine panische Millionenmeute in die Lebensmittelläden ein.

Konserven, deren Inhalt man gestern noch nicht mal einem besonders ungeliebten Hund als Karfreitagsmahlzeit zugemutet hätte, sind der Renner: Ravioli mit Kapern, transsylvanischer Rosenkohleintopf, trübe Scheidungssuppe. Was nicht niet- und nagelfest ist, wird in Taschen, Beutel und Rucksäcke gestopft oder gleich auf Paletten aus dem Geschäft gefahren. Was allerdings niet- und nagelfest ist, wird zerlegt, zerhackt, zertrümmert, um danach denselben Weg zu nehmen.

Selbst um das Regal mit dem Klopapier wird gebalgt, als hätte man eine Schweinehälfte in einen piranhaverseuchten Fluss geworfen. Ultrasoft, soft und mittel sind längst weg, nun reißen sich die Streithähne dunkelbraunes Schmirgelpapier aus nordkoreanischer Herstellung gegenseitig aus den ersterbenden Klauen. Denn die Aussicht auf kein Fernsehen, kein Internet, kein Licht lässt die Köpfe der Konsumenten auf der Suche nach alternativen Zeitvertreiben heiß laufen: Wenigstens noch einmal richtig scheißen, lautet offensichtlich die Devise.

Wenigstens noch einmal richtig scheißen, lautet die Devise der panischen Einkäufer

Es sieht aus, als wäre nicht nur der Jüngste Tag gekommen, sondern als hätte er den zweit- und drittjüngsten Tag gleich noch zur Verstärkung mitgebracht. Der Ausdruck „Apokalypse“ ist viel zu schwach für das Ereignis, dessen Zeuge wir hier werden. Weitaus besser passt „Neues Zivilschutzkonzept“. Der zu diesem Tag eigentlich erwartete Antichrist würde angesichts des Grauens mit eingekniffenem Schwanz schrill jaulend das Weite suchen, um sich unter der leergeräumten Käsetheke zu verkriechen. Doch das Böse muss den Braten rechtzeitig gerochen haben.

Koten in leere Regale

Dass Verwirrte – lachend, weinend, brabbelnd vor Verzweiflung – ungeniert in die leeren Regale koten; dass sie mit den Exkrementen satanische Botschaften („Bundesregierung“, „staatliche Notfallvorsorge“ und „Wir werden alle sterben!“) an die Wände schmieren; dass geschrien („Zweite Kasse, bitte!“), gevöllt und gesoffen wird, als gäbe es kein Morgen; dass Wildfremde mitten im Supermarkt spontan miteinander kopulieren – all das ist hier gewiss kein ungewohnter Anblick. Denn – hey! – wir befinden uns noch immer in Berlin, genauer, im „Kaiser’s“ an der Kreuzberger Wrangelstraße. Doch dass das alles auf Veranlassung des Bundesinnenministeriums geschieht, verleiht den Geschehnissen eine offiziöse, fast feierliche Note.

Andere begleichen offene Rechnungen mit ungeliebten Mitmenschen, was an einem Tag wie heute praktisch jeden meinen kann. Hirnmasse aus aufgeschlagenen Schädeln mischt sich mit den Flüssigkeiten aus in blinder Gier zerschlagenen Getränkeflaschen.

Zumindest irdische Bestrafung haben die Täter nicht mehr zu fürchten. Die Polizei marodiert, plündert und rafft schon längst mit ihnen, als Wölfe unter Wölfen. Eine kreischende Gestalt mit grauenhaft verdrehten Augen, in denen nur noch das Weiße zu erkennen ist, wirft sich auf mich, schlägt mir ihre Eck- und Schneidezähne in die Halsschlagader. Mit animalischer Gier trinkt sie mein Blut, bis auch mein Körper leer ist. Ein schlechtes Omen: Sogar Tomatensaft ist aus, und spätestens wenn auch noch der Tomatensaft alle ist, sind die Zeichen für den Jüngsten Tag komplett.

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kari

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