Aus Le Monde diplomatique: Der gläserne Flüchtling

Im jordanischen Zaatari bezahlen die Geflüchteten mit ihrem Auge. Ihr Kontostand wird an der Iris abgelesen. Das verhindere Betrug, lobt das UNHCR.

Ein Auge in Nahaufnahme

Der Irisscanner ist nur eines von vielen Kontrollinstrumenten Foto: Imago/Westend61

An der Supermarktkasse im jordanischen Flüchtlingscamp Zaatari bezahlt man neuerdings per Augenaufschlag: „Treten Sie bitte näher und schauen Sie hier rein . . . danke für Ihre Mitarbeit“, ertönt eine metallisch klingende Stimme aus einem Leuchtkasten, der an einem Gelenkarm befestigt ist.

Für jeden Erwachsenen hat das UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) bei der Jordan Ahli Bank ein digitales Konto eingerichtet, auf das jeden Monat 50 Dollar überwiesen werden. Die „Augenkassen“, die seit Februar 2016 in Zaatari stehen, können den Kontostand der Supermarktkunden an der Iris ablesen. Das Bezahlen dauere nur „einen Wimpernschlag“ und verhindere Betrug, lobt das UNHCR. Im letzten Sommer wurde das System auch in Azrak eingeführt, dem anderen großen Lager für syrische Flüchtlinge im Norden Jordaniens.

Das Zaatari-Camp, sechs Kilometer von der syrischen Grenze entfernt, wurde am 28. Juli 2012 für die Bürgerkriegsflüchtlinge aufgebaut. Heute leben hier 79.822 Menschen (Stand 1. Mai 2017), die größere Sorgen haben als die biometrische Erfassung ihrer Iris. „Eigentlich ist es sogar ganz praktisch, man kann die Karte nicht verlieren“, meint eine Frau im Supermarkt lakonisch. Sie bedauert nur, dass sie nicht mehr ihre Kinder zum Einkaufen schicken kann. Der Journalist Hani Maoued weiß allerdings, dass der Irisscanner für viele schon ein großes Thema ist: „Im Lager ist ohnehin ihre ganze Umgebung auf Kontrolle ausgelegt, hier wird ihnen alles vorgeschrieben. Dieses System ist für sie nur noch ein zusätzlicher Zwang.“

Das Unternehmen IrisGuard, das dem UNHCR die biometrischen Kassen „gespendet“ hat, bekommt ein Prozent von jedem Einkauf im Zaatari-Supermarkt. „Das kostet das UNHCR 20 Prozent weniger als das Verteilungssystem mit Lebensmittelpaketen“, behauptet Imad Malhas, Gründer und einer der drei Chefs von IrisGuard. „Mich fasziniert diese Technologie. Jeder Mensch hat eine andere Iris, außerdem ist sie das Einzige am Körper, was das Leben lang unverändert bleibt. Viel zuverlässiger als Fingerabdrücke.“

Seit 2003 ist die Firma auf den Kaiman-Inseln ansässig, einem der undurchsichtigsten Steuerparadiese der Welt. Mit dem UNHCR hat IrisGuard einen neuen Kunden gewonnen. Bislang hat das Unternehmen vor allem US-Gefängnisse, die Grenzposten der arabischen Emirate oder die Antidrogeneinheiten der jordanischen Polizei mit Irisscannern ausgestattet.

Im Aufsichtsrat sitzen unter anderem Richard Dearlove, bis 2004 Direktor des britischen Auslandsgeheimdienstes SIS, und Frances Townsend, von 2004 bis 2008 Beraterin für innere Sicherheit und Terrorbekämpfung von US-Präsident Bush. „Das zeugt von unserer Qualität“, meint Imad Malhas, der seit dem Deal mit dem UNHCR darauf hofft, neue Märkte zu erobern. IrisGuard möchte sein System zum Beispiel auch gern an die Türkei verkaufen, die zurzeit die meisten Flüchtlinge aus Syrien aufnimmt. Im Januar 2017 lebten laut UNHCR 2,7 Millionen Geflüchtete aus Syrien in der Türkei. Da die türkische Regierung jede Einmischung von außen jedoch ablehnt, stehen die Lager nicht unter der Aufsicht des UNHCR.

Schon 2002, drei Jahre bevor in der EU biometrische Pässe eingeführt wurden, lancierte das UNHCR in Afghanistan die „weltweit erste praktische Anwendung der Iriserkennung“, ein Testprogramm, um die Identität afghanischer Rückkehrer aus Flüchtlingscamps im benachbarten Pakistan zu überprüfen. Fünfzehn Jahre später hat die Regierung die biometrischen Merkmale der gesamten afghanischen Bevölkerung registrieren lassen. Auf diesem Gebiet ist das arme Afghanistan eines der fortschrittlichsten Länder der Welt.

„Die Menschen in den Flüchtlingscamps sind Versuchskaninchen für neue biometrische Anwendungen“, warnt Paul Currion. Er ist unabhängiger Berater für humanitäre Fragen und hat im Irak und in Afghanistan für verschiedene NGOs gearbeitet. Für Unternehmen, die diese Technologien entwickeln, seien die Flüchtlingslager ein Geschenk des Himmels. Sie können Kontakte zu westlichen Regierungen knüpfen, sich mit dem Image der humanitären Hilfe schmücken, und gleichzeitig ihre Geräte in großem Umfang testen, denn die Geflüchteten trauen sich nicht, ihre biometrische Erfassung infrage zu stellen, geschweige denn sich dagegen zu wehren.

Nach Afghanistan hat das UNHCR die biometrische Registrierung in etlichen weiteren Ländern, von Malaysia bis Kenia, eingeführt. Sechs Jahre später wurde Simon Davies, Gründer des Vereins Privacy International und Spezialist für den Schutz personengebundener Daten, mit der Evaluation beauftragt. „Was wir dort gefunden haben, war sehr besorgniserregend“, erzählt Davies. „Die Menschen sind verzweifelt, deshalb akzeptieren sie alles. Aber in Äthiopien haben sie sich zum Beispiel große Sorgen wegen der Fingerabdrücke gemacht. Sie hatten Angst, dass man ihnen ihre Identität raubt.“

Dieser Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe von Le Monde diplomatique. LMd liegt immer am zweiten Freitag des Monats der taz bei und ist einzeln im taz-Shop bestellbar: Gedruckt oder digital (inklusive Audio-Version). Das komplette Inhaltsverzeichnis der aktuellen Ausgabe finden Sie unter https://monde-diplomatique.de/zeitung

Auf den Computern fanden Davies und sein Team unverschlüsselte persönliche Daten und Vereinbarungen über Datentransfers mit den Behörden der Aufnahmeländer, vor allem in Malaysia. Doch die Verträge mit den Unternehmen konnten sie nicht einsehen: „In Europa wäre die Erhebung und Speicherung solcher Daten absolut illegal.“ Das UNHCR hat weder den Bericht von Davies veröffentlicht noch die Frage beantwortet, ob die Flüchtlinge ihrer biometrischen Erfassung überhaupt zugestimmt haben.

Das ist jetzt neun Jahre her, und das UNHCR hat an seiner Praxis der Datenerhebung immer noch nichts geändert. Katja Lindskov Jacobsen vom Kopenhagener Zentrum für Militärforschung ist empört über das Vorgehen der Organisation. Die Einführung der Biometrie in großem Maßstab habe die Flüchtlinge in den letzten zehn Jahren paradoxerweise noch verletzlicher gemacht. „Der Schutz der Daten ist kaum geregelt. Sie können mit Staaten ausgetauscht werden, wie es in Kenia passiert ist, wo die Daten der Geflüchteten mit denen der Bürger abgeglichen wurden. Bei Ausschreibungen für Unternehmen ist sogar ausdrücklich festgelegt, dass die Informationen ‚nach Ermessen des UNHCR‘ freigegeben werden können.“ Von der kommerziellen und politischen Nutzung dieser wertvollen Informationen ist noch einiges zu erwarten.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

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