Das Gefängnis bleibt ein Nicht-Ort

Knast Warum hat Theater im Gefängnis so eine große Bedeutung? Der Rechtshistoriker Ralf Oberndörfer über das Gefängnistheater aufBruch, wo er vieles findet, was im geläufigen Wissen vom Leben hinter Mauern fehlt

Szene aus „Glaube Liebe Hoffnung“, der neuen Produktion von aufBruch. Heute ist die Premiere in der St. Johanniskirche in Alt-Moabit Foto: Thomas Aurin

von Ralf Oberndörfer

Das Haus der tausend Türen betrat ich durch die Pforte. Im Tausch für meinen Personalausweis erhielt ich eine von zwei Plastikkarten mit einer Nummer. Die andere Karte wurde mit einer Wäscheklammer am Ausweis befestigt. Er verblieb hinter Panzerglas bei den Justizvollzugsbediensteten.

Der Anlass für diesen Eintritt in die Justizvollzugsanstalt Großbeeren/Heidering südlich von Berlin an einem regnerischen Tag im September 2015 war, dass dort Carl Zuckmayer gegeben wurde. Seit 18 Jahren inszeniert das Gefängnistheater aufBruch klassische und selbst erarbeitete Stücke. Ein Ensemble von Gefangenen probt vier bis sechs Wochen, dann wird das Stück dem Publikum präsentiert, das zu Gast im Gefängnis ist.

In der JVA Heidering saßen wir Zuschauer verpackt in Einwegregencapes und sahen, wie die Darsteller mit ruppiger Inbrunst die gallebittere Komödie über den Schuster Wilhelm Voigt spielten. Sie trugen schwarze Westen und schwarze Melonen und der Regen tropfte von den Krempen. Gespielt wurde draußen.

Alles in Heidering ist nagelneu, das Gefängnis wurde 2011 in Betrieb genommen. Bei der Eröffnung traten die Verantwortlichen dem Vorwurf entgegen, hier handele es sich um „Luxusvollzug“. Dieses Wort trauert dem Kerker nach, der dem Gefangenen einst die vollkommene Entwürdigung und der Gesellschaft die vollständige Entlastung brachte. Heute liegt das Alltagsbild von Gefängnis irgendwo zwischen dem Grafen von Monte Christo, der im verdreckten Château d’If vor sich hin vegetierte, Burt Lancaster, der in Alcatraz seine Flucht plante, und einer Prise der US-amerikanischen Comedy-Drama-Serie „Orange is the New Black“.

Ein Jura-Student sieht kein Gefängnis von innen

In meiner Ausbildung zum Volljuristen habe ich nie ein Gefängnis von innen gesehen. Viele Schöffen, Richter und Staatsanwälte verhandeln über Freiheitsstrafen, ohne den Ort des Strafvollzugs je betreten zu haben.

In der JVA Tegel im Norden Berlins steht ein Gebäudeflügel leer, der ist ein Knast der alten Schule. Im 19. Jahrhundert errichtet, bot er im November 2015 mit preußischem Backstein, grau gestrichenen Stahltreppen, wuchtigen Türen und winzigen Zellen eine Bühne für aufBruch. Während ich begleitet von Justizvollzugsbediensteten über das riesige Gelände lief, unterhielten sich Strafgefangene von Zelle zu Zelle quer über den Hof. Einer rief: „Antreten zum Menschentiere-Glotzen!“

Heiner Müllers „Philoktet“ ist ein Dreipersonenstück. Odysseus und Neoptolemos, der Sohn des Achill, haben Philoktet vor zehn Jahren auf Lemnos ausgesetzt. Sie wollen ihn zur Rückkehr zum Kampf gegen Troja bewegen, aber eigentlich wollen sie nur Pfeil und Bogen stehlen, die Herakles Philoktet einst zum Geschenk machte.

Heute hat eine neue Produktion vom Gefängnistheater aufBruch Premiere, „Glaube Liebe Hoffnung“. In Ödon von Horvaths Stück steht die junge Elisabeth im Mittelpunkt, die wegen einer harmlosen Ordnungswidrigkeit einer unbarmherzigen Gesellschaft ausgeliefert wird. Regie führt Peter Atanassow.

Einmal im Jahr kann das Gefängnistheater die Mauern der JVAs verlassen. Aufführungsort ist diesmal die St. Johanneskirche in Alt-Moabit. Es spielt ein Ensemble aus Freigängern, Ex-Inhaftierten, Schauspielern und Berliner Bürgern.

20. bis 23. Juli, 27. bis 31. Juli, 3. bis 6. August, jeweils 20 Uhr. Karten unter www.gefaengnistheater.de

Im Treppenhaus des Gefängnisflügels schrien drei Chöre Müllers karge Verse dem Publikum rhythmisch entgegen. Kein Bühnendeutsch hallte durch die drei Etagen. Die von Sophokles literarisch bearbeitete Sage bekam eine schwäbische oder türkische Akzentuierung, die die einzelnen Lebensgeschichten andeutete, ohne sie preiszugeben. Die Aufführung ersparte den Besuchern, zum Voyeur beschädigter Biografien zu werden. Das Recht zu sprechen lag bei den Schauspielern, der fremde Text schützte sie vor unfreiwilliger Selbstentblößung.

Die JVA Plötzensee hat den technokratischen Charme eines Oberstufenzentrums der siebziger Jahre plus Gitter. Inspiriert durch Texte von Louis-Ferdinand Céline entwickelte ein Ensemble im Herbst 2014 dort in einem Schreibworkshop ein eigenes Stück. Eine Dating-Show lieferte die Rahmenhandlung. Der Conférencier pries die Vorzüge des „Hotels Plötzensee mit seinem umfangreichen Sport- und Freizeitangebot“ im schmeichelnden Ton einer Dauerwerbesendung und präsentierte die Kandidaten, die alle sehr gern Kontakte mit den Besuchern knüpfen wollten. Während sie sich in kurzen Auftritten präsentierten, stand ein Koch auf der Bühne und rührte in großen Töpfen mit Bulgur und Linseneintopf.

Von Menschenzoo konnte keine Rede sein, dafür spielten die Protagonisten viel zu souverän, auch mit den Knastklischees, die in den Publikumsfragen variiert wurden. „Was würdest du tun, wenn du einen Tag in Freiheit wärst?“ In den Puff gehen. „Wem vertraust du im Gefängnis?“ Keinem Menschen.

Die Sehnsucht nach Authentizität unterlaufen

Zwei Gefangene boten Zigaretten an, ich folgte ihnen in den Raucherraum draußen im Flur, eine Nische mit einer Tür und Dutzenden von Brandflecken an der Wand. Für eine Zigarettenlänge redeten wir neugierig aneinander vorbei, das Gespräch wurde per Video in den Zuschauerraum übertragen. Die haben alle etwas gemacht, dachte ich.

Keiner wusste, ob die präsentierten Lebensgeschichten wahr oder erfunden waren. Die Sehnsucht des Publikums nach der Signatur biografischer Authentizität wurde persifliert, unterlaufen, vielleicht auch eingelöst. Als Erzähler ihrer Texte waren die Gefangenen Subjekte ihrer Geschichten. Im Schlussapplaus genossen sie das Glück, gehört worden zu sein, die Blicke des Publikums, den Stolz, den Besuchern etwas gegeben zu haben.

Für eine Zigarettenlänge redeten wir neugierig aneinander vorbei

Als die bescholtenen Darsteller und ihre unbescholtenen Gäste gemeinsam für den Eintopf anstanden, entstand ein Zwischen-Raum, der Platz für andere Geschichten ohne Textbuch ließ. Im Haus mit den tausend Türen schickt es sich nicht, mit der Tür ins Haus zu fallen. Als Erstes nach dem Grund der Strafe zu fragen gilt als unhöflich, es gab genug andere Themen.

Der Text einer Figur musste von einem Tag auf den anderen auf mehrere Schauspieler verteilt werden, weil der Gefangene, der den Part geprobt hat, abgeschoben wurde. Viele Angehörige und Freunde waren da. Das ist oft so bei aufBruch. Manche Besucher kommen zu jeder Aufführung, das ist zusätzliche Besuchszeit.

Ein Gefangener sagte, er habe sich zum Theater gemeldet, um der Langeweile zu entkommen, ein anderer meinte, er würde nach dem Ende der Haft bei aufBruch mitarbeiten.

Das Gefängnis ist immer noch ein Nicht-Ort, dabei ist die Grenze zwischen drinnen und draußen so dünn wie die Karte, die zum Verlassen einer JVA berechtigt. Das Gefängnistheater macht sie durchlässig und bringt den Strafvollzug in die Gesellschaft zurück, die für ihn verantwortlich ist.

Ralf Oberndörfer ist Rechts­historiker und Autor. Er lebt in Berlin